»Am Rande des Abgrunds stehend ...«

Der Schauprozess gegen den »Block der Rechten und Trotzkisten« vor 70 Jahren und russische Geschichtspolitik heute

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 5 Min.

Vorbereitung und Durchführung des dritten (und letzten) Moskauer Schauprozesses unterschieden sich kaum von den Inszenierungen, die 1936 und 1937 im Gewerkschaftshaus über die Bühne gingen. Einen Monat nach der Hinrichtung der im Januar 1937 Verurteilten saßen die ersten fünf der für den Folgeprozess von Stalin ausgewählten 21 Angeklagten bereits im Inneren Gefängnis der Lubjanka in Untersuchungshaft.

Bei den zuerst Verhafteten handelte es sich um den Diplomaten Sergej Bessonow, den »Liebling der Partei« Nikolai Bucharin, den ehemaligen Geheimdienstchef Genrich Jagoda, Lenins Stellvertreter Alexej Rykow sowie Trotzkis Freund und Mitbegründer der Komintern, Christian Rakowski. Die anderen Angeklagten wurden Ende Juli bzw. Anfang Dezember 1937, unmittelbar vor Fertigstellung der Anklageschrift, verhaftet. Was mit den fünf Spitzenfunktionären bis zur Verurteilung der »Militärverschwörer um Marschall Tuchatschewski« geschah, ist nicht bekannt. Die Untersuchungsführer hatten genug mit den Militärs zu tun und ließen die »Rechten und Trotzkisten« im wahrsten Sinne des Wortes sitzen.

Bucharin schrieb in dieser Zeit das erste von drei in der Lubjanka konzipierten Büchern. Was »draußen« vor sich ging, erfuhren die Häftlinge nicht. Völlig isoliert von der Außenwelt, wussten sie auch nichts über Verbleib und Schicksal ihrer Angehörigen. Erst als sie im Sommer mit den »Geständnissen« der Militärs konfrontiert wurden, drang die eine oder andere Information über das politische Geschehen im In- und Ausland bis zu ihnen vor. Bucharins »Letztes Wort« spiegelt wider, welche »Geständnisse« der Vertreter der Anklage, Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski, verlangte. Von Ende Juni bis Ende September wurde Bucharin fast jede Nacht verhört. Worum es ging, ist in vielen der exakt datierten Gedichte angedeutet, die er vor oder nach den Vernehmungen schrieb. Nach dem letzten Verhör im Dezember 1937 durfte er Abschiedsbriefe schreiben. Stalin las den an ihn gerichteten an seinem Geburtstag: »Am Rande des Abgrundes stehend, aus dem es kein Zurück gibt, gebe ich dir mein allerletztes Ehrenwort«, schrieb Bucharin, »dass ich die Verbrechen, die ich während der Untersuchung zugegeben habe, nicht begangen habe«.

Den Morphiumbecher, um den Bucharin gebeten hatte, erhielt er nicht. Stattdessen legte man ihm eine Ausgabe der »Pionerskaja Prawda« vor, in der seine Tochter Swetlana mit Freunden beim Skilaufen abgebildet war. Er durfte auch an seine Frau schreiben, die er in Freiheit wähnte. Doch Anna Larina war kurz nach der Geburt des Sohnes aus Moskau verbannt worden. Bucharins Brief erreichte sie 1992. Ihr Schicksal teilten auch Bucharins Eltern, Brüder und andere Angehörige sowie deren Kinder.

Von den bisher ermittelten 22 Personen waren zwischen 1937 und 1949 zwei mit Berufsverbot belegt worden, sechs mit Verbannung und drei waren als Angehörige von Verrätern der Heimat zu Zwangsarbeit zwischen 8 und 25 Jahren in Besserungsarbeitslagern verurteilt worden. Zwei überlebten Untersuchungshaft bzw. Lager nicht. Vier wurden nach der Verhaftung erschossen. Fünf Kinder kamen in Heime.

Bucharin hat Courage gezeigt, Rededuelle mit Staatsanwalt Wyschinskis gewagt und so dessen Plan durchkreuzt, eine Bande von reumütigen Terroristen, Mördern und Giftmischern der staunenden Öffentlichkeit vorzuführen. Er bestritt, die in der sogenannten Rjutin-Plattform enthaltenen Aufstandspläne gebilligt zu haben, die der Generalstaatsanwalt als Teil der »Palastrevolution« ins Spiel brachte. Auch den Anklagepunkt, Bucharin habe 1918 die Verhaftung und Ermordung Lenins geplant, musste Wyschinski schließlich fallenlassen. Das geht sogar aus dem 1838 erschienenen »Prozessbericht« hervor, eine Fälschung, die propagandistisch vermarktet und in über dreizehn Sprachen herausgegeben wurde. Die Anklagepunkte, auf denen Wyschinski beharrte, soll Bucharin im ersten Geständnis am 2. Juni 1937 zugegeben haben. Zweifel sind angebracht.

Nicht nur der Generalstaatsanwalt, sondern auch Stalin hat höchstpersönlich am Szenario Prozesses mitgewirkgt und nachweislich nach Belieben Angeklagte ausgetauscht. Die Gerichtsverhandlung wurde mitstenographiert und die Abschrift am selben Tag redigiert. Dabei wurde alles das getilgt, was darauf schließen ließ, dass in der Voruntersuchung und während des Prozesses gegen die Vorschriften der Prozessführung verstoßen wurde. Die Eingriffe in den Text reichten von stilistischen Korrekturen bis zum Umschreiben der Aussagen in ihr Gegenteil. Einwände und Proteste der Angeklagten, alles was dem Eindruck der Geständigkeit zuwiderlief, wurde aus dem Text gestrichen, belastende Aussagen hinzugefügt, Jahreszahlen und Fakten dem mit den Politbüromitgliedern abgestimmten Drehbuch des Prozesses angepasst.

Noch sind die unredigierten Stenogramme der drei großen Moskauer Schauprozesse unveröffentlicht. Die im Zentralen Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes aufbewahrten Untersuchungsakten und Prozessmaterialien aus den Jahren 1936 bis 1938 werden immer noch wie ein Staatsgeheimnis gehütet. In Anbetracht dessen verwundert es nicht, wenn die wenigen, irgendwo auftauchenden Dokumente wie sensationelle Entdeckungen präsentiert werden. Die letzte Publikation dieser Art ist die Kopie des von den Kommentatoren als authentisch bezeichneten »Geständnisses« Bucharins vom 2. Juni 1937. Bei dem aus Dimitri Wolkogonows Archiv stammenden Papier handelt es sich um die Kopie eines Typoskriptes. Weil jede Seite Bucharins Unterschrift trägt, wäre damit sein wahres Gesicht enhüllt, wird hier behauptet. Wyschinski, so die darauf aufbauende Argumentation, habe nichts konstruieren und erfinden müssen. Dass Bucharin in den Abschiedsbriefen und in seinem »Letzten Wort« seine Unschuld beteuerte, könne ihn nicht entlasten, meinen die Herausgeber, die Stalins prominentestes Opfer als einen Heuchler und Lügner verleumden.

Solange die Prozessmaterialien für die Forschung gesperrt bleiben, muss mit weiteren vergleichbaren Veröffentlichungen gerechnet werden. Was unter Michail Gorbatschow begonnen hatte, war in der Amtszeit seines Nachfolgers Boris Jelzin nicht zu Ende geführt worden, stattdessen setzte eine Enthüllungskampagne anderer Art ein. Die Rehabilitierungskommission unter Alexander Jakowlew stellte die Recherchen über die Verfolgung der Eliten ein und wandte sich nun ausschließlich der Dokumentation des staatlich gelenkten Terrors gegen das Volk zu. Im Ergebnis dieser Kurskorrektur kam es zum Abbruch halbherzig aufgenommener Untersuchungen über bedenkenswerte Veränderungen im Führungszirkel der Partei- und Staatsführung. Die Chance, dem unter Gorbatschow aufgenommenen Faden zu folgen und Antworten auf die seit der Rede von Nikita Chruschtschow über den Personenkult auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 diskutierte Fragen zu finden, war wieder einmal vertan.

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